Seit fast drei Jahrhunderten erzählt man sich in Bruchhausen eine eigenartige, ja fast unglaubliche Geschichte. Sie erzählt von einem Schiff voll besetzt mit Geistern, welche zornig auf ihr eigenes, trauriges Schicksal Rache nehmen an Denjenigen, die durch Raub und Mord ihr Dasein fristen. „Ein Schiff, hier, in Bruchhausen?“, wird der Hörer nun überrascht fragen. Doch tatsächlich ist es so, dass dieses Schiff hier in der Gegend, hunderte Kilometer weit weg vom Meer, gesehen wurde. Und der Grund dafür liegt in der Schuld seines Kapitäns, eines Piraten, welcher durch eine ganz bestimmte Tat dazu verdammt wurde und nun auf ewig dafür büßen muss. Doch hören wir mehr darüber.
Es war in einer Sturmnacht an einem Ort, weit oben an der Küste der Nordsee. Kapitän Goldzahn saß in seinem Versteck, einer Höhle in den Klippen oberhalb des Zackenfelsens, trank einen Schluck Rum aus seiner Flasche und blickte grimmig hinaus aufs Meer. Die See war aufgewühlt. Der Wind pfiff scharf um die Felsen. Blitze zuckten vom Himmel. Und Wellen, so hoch wie Häuser, brandeten kraftvoll gegen die Klippen. Der Kapitän lachte zufrieden. Für den Anführer der Strandpiraten verhieß ein solches Wetter reiche Beute. Seine Männer hatten schon alles vorbereitet. Als er ein Zeichen gab, setzten sie das zu einem großen Stapel errichtete Signalfeuer in Brand und stachelten es immer höher an. Schon kurze Zeit später flackerte es weithin sichtbar im Sturmwind und strahlte leuchtend in die Dunkelheit der See hinaus.
Ein Schiff näherte sich der Küste. Eine stolze Dreimastkaravelle, beladen mit Handelsgütern, versuchte sich den Mächten des Meeres entgegen zu stemmen. Der umsichtige Kapitän jenes Handelsschiffes hatte die Segel streichen und die Ruder auslegen lassen. Gnadenlos spielten die riesigen Wellen mit dem kleinen Schiff und verzweifelt versuchten die tapferen Seemänner an ihren Rudern das Schiff auf Kurs zu halten. Welle um Welle fegte über das Deck hinweg und nur durch Glück wurde keiner der Matrosen von Bord gespült. Noch bestand Hoffnung für sie. Ihr Kapitän hatte trotz Blitz und Donner, Regen und Dunkelheit sowie Wind und Wellen das Leuchtfeuer an der Küste gesehen. Im Glauben, dem Licht eines Leuchtturms in einen sicheren Hafen zu folgen, lenkte er das Schiff weiter in Richtung Küste.
Dann plötzlich, krachte es. Segel rissen, Balken ächzten, Mast und Schote brachen in lautem Getöse, als das Schiff auf ein Riff auflief, welches unter der Wasseroberfläche lauerte. Lange schrien die Männer um Hilfe, bis das Wasser sie bis auf den Letzten zu sich holte. Kapitän Goldzahn schaute bis zum Ende zu. Seine schwarze Seele lachte und freute sich auf die Beute, welche sie sich am nächsten Tage holen würden.
Der darauffolgende Morgen lag im Nebel. Lange wanderten die Piraten am Strand entlang, auf der Suche nach dem ersehnten Lohn ihrer Mühen, der Ladung des Schiffes. Doch nichts war zu finden. Kein Schiffswrack, kein Strandgut, keine Beute. Kapitän Goldzahn tobte vor Wut. Und noch am Ort dieses grausamen Verbrechens forderte die abscheuliche Tat ihren ersten Tribut. Wie von Sinnen rammte der Kapitän plötzlich seinem Matrosen Jan den Säbel in den Leib. Ungläubig starrte dieser auf die Klinge in seiner Brust. Blut quoll ihm aus dem Mund. Und fast lautlos fiel er hinten über und klatschte in die sanften Wellen des Meeres. Angstvoll blickte die Piratenbande in die Runde. Doch keiner wagte gegen ihren Kapitän aufzubegehren oder auch nur ein Wort zu sagen über das, was gerade geschehen war. Und so wurde auch der Leib des Strandpiraten dem Meer übergeben und die Übrigen zogen von dannen.
Frustriert über den ausgebliebenen Erfolg gingen sie in eine Stadt und betranken sich. Lange und viel tranken sie. Die Schreie der Ertrinkenden hatten sie nicht unberührt gelassen. Ihre Gesichter hatten sich in ihren Köpfen eingebrannt und das, obwohl sie so weit weg gewesen waren. Und dann fehlte auch noch vom Schiff jegliche Spur. Die Ersten fingen an, ihre Tat zu bereuen und Seemannsgarn über den Verbleib des Schiffes zu spinnen. Kapitän Goldzahn hingegen ließ das alles kalt. Grimmig spülte er seinen Ärger hinunter und verfluchte noch das Schiffswrack, welches nicht den Anstand hatte, sich ihm, dem großen Piratenkapitän zu zeigen.
Später verließen die Piraten nach und nach die Kneipe am Hafen. Betrunken torkelte Hein den Kai entlang. Er hatte sich noch lange mit dem Wirt unterhalten und als Letzter die Kneipe verlassen. Nun machte er sich auf den Weg zur Scheune, in welche die Bande sich für die Nacht einquartiert hatte. Still und leer lag das Hafenbecken zu seiner Rechten. Nur ein paar Fischerboote waren an den Pollern vertäut. Langsam plätscherten die sanften Wellen gegen die Kaimauer. Dann plötzlich, ein lautes Knatschen wie von sich biegendem Holz. Hein erschrak. Langsam, die Augen weit aufgerissen, blickte er nach rechts. Dort lag es vor ihm im Hafenbecken, das Schiffswrack, das Geisterschiff. Seine Masten waren abgebrochen, das Deck lag in Trümmern und riesige Löcher klafften in der Bordwand, durch welche Ströme von Wasser hinaus flossen. Bibbernd tippelte Hein rückwärts. Er wollte sich umdrehen und schreiend das Weite suchen, da lief er auch schon jemandem direkt in die Arme, der offenbar hinter ihm gestanden hatte. „Da… d-d-d da…!“ brachte er noch hinaus, bevor sein Blick im Gesicht der Gestalt ankam. Deren Anblick verschlug ihm die Sprache. Entsetzt sah er in die leeren Augen der Wasserleiche eines der Matrosen, die er selbst am Tag zuvor hatte sterben sehen. Blitzschnell schossen deren Arme vorwärts und packten Hein am Hals. Panisch versuchte er noch, sich des stählernen Griffes zu erwehren. Er schlug und trat gurgelnd um sich, da schritt die Gestalt auch schon weiter voran und stürzte sich mit ihm zusammen ins Hafenbecken. Am Morgen fand man Hein auf dem Bauch im Wasser treibend. Zu viel getrunken, hieß es. Dann ausgerutscht und ins Wasser gefallen, meinten die Alten. Armer Kerl. Das Geisterschiff hatte sein zweites Opfer geholt.
In den nächsten Wochen ereigneten sich weitere, mysteriöse Unglücksfälle unter den Piraten. Klaas wurde des Nachts von einem morschen Schiffsmast erschlagen. Unerklärlich, warum der Zustand des Holzes zuvor niemandem aufgefallen war. Pit geriet mit seinem Fuß in ein Ankertau und wurde, als der Anker sich seltsamerweise von selbst gelöst hatte, mit ihm zusammen in die Tiefe gerissen. Als die Schiffsbesatzung den Anker in Rekordzeit gelichtet hatte, hing Pit tot am Haken.
Einer nach dem anderen fiel den unerklärlichen Unfällen zum Opfer. Zuerst die einfachen Matrosen der Bande und schließlich auch der zweite und der erste Maat. Bis zum Schluss nur noch Kapitän Goldzahn übrig war. Doch der wollte sich nicht einfach so in sein Schicksal ergeben. Als sein Verdacht zur Gewissheit wurde, dass man es auf ihn und seine Leute abgesehen hatte (den Gerüchten eines Geisterschiffs glaubte er übrigens nicht), da bestieg er hastig eine Kutsche und fuhr so weit es nur irgend ging von der See weg, bis tief hinein ins Sauerland, zu den Bruchhauser Steinen.
Im Schatten dieser Berge glaubte er sich in Sicherheit und verbrachte einige Wochen dort oben, wie auch in den Wäldern rings herum und im Gasthaus des Dorfes als einfacher Reisender. Mit seiner wettergegerbten Haut, den vielen Narben und dem rauen Gebaren fiel er den Dörflern natürlich auf. Manch einer mutmaßte schon, dass dieser Mann etwas auf dem Kerbholz hatte. Auch legte er ein eigenartiges Benehmen an den Tag. Er mied Wasser, wo immer er es auch erblickte. Er badete nicht, er ging bei Sturm und Regen nicht vor die Tür und er machte einen großen Bogen um jedes Gewässer, selbst um den seichten Dorfbach, der durch Bruchhausen floss. Bald war er als wunderlich und wirr im Kopf bekannt. Kapitän Goldzahn selbst hingegen hielt sich für genial und glaubte, mit seinem Verhalten der Rache der Toten entkommen zu können.
Dies gelang ihm auch, bis schließlich eines Tages, der Untergang des Schiffes war nun schon einige Monate her, an einem lauen Sommerabend ein Sturm aufzog in Bruchhausen. Blitz und Donner lagen in der Luft, der Wind heulte und rüttelte an den Fensterläden des Gasthauses und der Regen floss in Strömen durch die Gassen. Es hörte gar nicht mehr auf zu regnen, so dass das Wasser immer höher stieg, sich in die Häuser hinein drückte und schließlich sogar den Schankraum flutete. Fluchend rannte Kapitän Goldzahn die Treppe hinauf. Er war sich sicher, nicht die Naturgewalten waren es, die dort draußen wüteten, sondern die rachsüchtigen Geister waren gekommen, um ihn zu holen. Schnell öffnete er die Tür zu seiner Kammer. Hastig trat er ein und verriegelte die Tür. Sein Zimmer lag ruhig und still da. Von oben hörte er das Prasseln des stetigen Regens. Der Wind rüttelte an den Fensterläden. Dann plötzlich, ein Blitz. Und Donner. Krachend riss der Wind die Fensterläden auf. Kapitän Goldzahn fuhr herum und starrte durch das Fenster in die Dunkelheit. Nichts zu sehen. Doch dann, ein weiterer Blitz, der die gesamte Gasse in Helligkeit tauchte. In diesem kurzen Licht erblickte Kapitän Goldzahn voll Schrecken das Geisterschiff, welches in der Gasse direkt vor dem Gasthaus stand. Stumm und mit leeren Augen blickte seine geisterhafte Besatzung, die reglos an Deck des Schiffes stand, in Richtung des Kapitäns. Der stand noch immer an der Tür und presste sich mit dem Rücken daran. Erst jetzt fiel ihm auf, dass eine Planke auf der Schiffsreling, sowie auf seiner Fensterbank lag. Die Geister wollten offenbar, dass er zu ihnen hinüber kam. Doch nichts da. „Nicht mit Kapitän Goldzahn!“, dachte er. Schon wollte er sich umdrehen und durch die Tür flüchten, da sah er, wie die Schatten an den den Wänden plötzlich wuchsen und Form annahmen. Rechts und links von ihm, immer mit einer Armeslänge Abstand, standen in nur wenigen Augenblicken die toten Matrosen und bildeten ein schauriges Spalier. Unter ihnen standen Jan, Hein, Klaas und Pit, sowie die anderen Mitglieder der Strandpiraten. Vor Schrecken hatte sich der Kapitän nicht rühren können, doch nun packte ihn wieder sein Überlebenswille. Er drehte sich um und öffnete die Tür. Er erschrak. Vor ihm stand der untote Kapitän des Geisterschiffes. Grüne Algen klebten in seinen langen, blonden Haaren, blass war seine Haut, Wasser floss unter seinem Hut hervor an seiner Kapitänsjacke hinab und seine leeren, weißen Augen funkelten plötzlich in einem bedrohlichen Rot. „Komm!“, sprach der Geist und deutete mit seinem rostigen Säbel in Richtung Fenster. „Mein Schiff braucht einen neuen Käpt’n! Einen… würdigen… Käpt’n. Har har har har!“ Kapitän Goldzahn stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Er wollte protestieren. Doch den bedrohlichen Augen des Geistes konnte er nicht widerstehen. Unbarmherzig schritt der Geist mit dem gestreckten Säbel auf ihn zu. Zitternd und bibbernd wich Goldzahn immer weiter zurück. Bis er schließlich über die Planke an Deck des Geisterschiffes getrieben wurde. Triumphierend lachte der Geisterkapitän und seine Mannschaft fiel in das Gelächter ein. Ganz Bruchhausen hörte die geisterhaften Stimmen im Wind des Sturmes lachen. Manch einer glaubte auch ein Schiff in den Gassen des Dorfes zu sehen. Am nächsten Morgen jedoch war der Spuk vorüber. Nur eine Leiche lag ertrunken in einer Pfütze vor dem Gasthaus des Dorfes: Kapitän Goldzahn.
Bis heute noch hört manch einer ein Gelächter im Wind und aus den Wäldern des Dorfes. Dann nämlich, wenn der neue Kapitän des Geisterschiffes die Seele eines Sünders zu sich holt, um wie er verdammt für alle Zeit auf dem Geisterschiff zu dienen. Tags drauf findet man dann oft eine Leiche, die unter mysteriösen Umständen den Tod gefunden hat. Denn niemand wagt es, dem Ruf des Kapitäns nicht zu folgen…
Autor: Vom Autor und Lagerleiter Sven Michel