In der vergangenen Woche haben wir im ersten Teil über den Unglücksfall „Asheuer gt. Steven“ berichtet. Dabei war am 2. September 1922 der Bahnarbeiter Franz Asheuer gt. Steven zu Tode gekommen. Heute nun die darauf folgende Verhandlung anhand von uns vorliegenden Zeitungsberichten. Die Zeitungsberichte entstammen alle der Recherche von Alfred Risse. Weitere Informationen haben wir von Walter Schlummer und Stadtarchivar Michael Jolk erhalten.
Die Verhandlung der Strafkammer Münster fand nicht in der Stadt des westfälischen Friedens, sondern im hiesigen Westönnen statt. Aufgrund der hohen Fahrpreise verlegte die Strafkammer II den Prozess in die Gastwirtschaft Schulte. Zur Verhandlung am Donnerstag, dem 15.11.2015 gab es ausführliche Artikel vom Soester Anzeiger, dem Soester Kreisblatt und dem Central Volksblatt. In unserem heutigen Bericht zunächst der Soester Anzeiger, der in seiner Ausgabe vom Montag, dem 19.11.1923 von der Verhandlung berichtet:
…..Die Strafkammer II des Landgerichts Münster hatte sich am Donnerstag mit der Anklage gegen den 26 jährigen Bahnarbeiter Theodor Fritze aus Westönnen wegen fahrlässiger Tötung des Bahnarb. Franz Steven, genannt Asheuer, zu beschäftige. Von der zuständigen Strafkammer Dortmund war die Strafsache wegen der Verkehrsschwierigkeiten an die Strafkammer Münster verwiesen worden. Die hohen Fahrpreise gaben Veranlassung, daß die Verhandlung selbst in Westönnen stattfand., und zwar in der Gastwirtschaft Schulte am Bahnhof.
In der Nacht vor 1. zum 2. September 1922, also vor gut 14 Monaten wurde morgens gegen ¼ vor 4 Uhr die Familie Fritze durch ein Geräusch in ihrem Hofe geweckt. Die Gänse schrien, und darum glaubte Fritze, Diebe seien in den Gänsestall eingebrochen. Theodor Fritze, der Sohn des Hauses, gab daraufhin einen Schuß aus dem Fenster ab, und zwar wie er sagt, mit einem Revolver. Vater und Sohn liefen dann auf die Straße, weckten den Nachbarn Müller, veranlaßten ihn, seinen Hund loszulassen, und Theodor Fritze gab mit einem mitgebrachten Karabiner auf der Straße noch einen Schuß ab. Denn, wie er angibt , hat er einen Menschen über den Uffelner Weg in Richtung nach Westen davonlaufen hören. Als es ruhig geworden war begab sich Familie Fritze und Nachbar Müller im Verein mit Nachbar Grote in den Garten, und dort fanden sie in einer großen Blutlache eine Leiche, die einen Kopfschuß aufwies. Später erkannten sie in dem Toten den Bahnarbeiter Franz Steven, genannt Asheuer, aus Westönnen, der nachmittags bei Gelegenheit der Verpachtung der Kirchenländereien dem Alkohol etwas reichlich zugesprochen hatte, abends noch durch verschiedene Wirtschaften gegangen war und um ½ 12 Uhr schwer betrunken bei der Wirtschaft Schulte wegging. Man wußte dann nicht, wo er geblieben war, er muß sich aber wohl in seinem betrunkenen Zustande gegen ½ 4 im Hofe von Fritze zu schaffen gemacht haben,wo er auf fahrlässige Weise von Theodor Fritze erschossen wurde. Da Asheuer als ordentlicher Mensch bekannt war, der nur zufällig mal etwas viel getrunken hatte, ist nicht anzunehmen, daß er tatsächlich stehlen wollte.
Unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Dr. Schlüter und unter Beisitz der Landrichter Stieve, Schmidt, Scheepers und Assessors Nigge nahmen die Verhandlungen folgenden Verlauf:
Der Angeklagter Theodor Fritze der bereits drei Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte, gibt an, in der fraglichen Nacht von seiner Schwester geweckt worden zu sein, weil Diebe draußen seien. Er habe dann mit dem Revolver – später sagt er mit dem Karabiner – aus dem Fenster geschossen. Dann habe er draußen vor dem Hause noch einen Schuß abgegeben, der aber Asheuer nicht habe treffen können, da dieser hinter dem Hause gelegen habe. Ob er aber tatsächlich am Tode des Asheuer schuld sei, wisse er nicht mit Bestimmtheit.
Als Sachverständiger wird darauf Kreismedizinalrat Dr. Hagemeier aus Lippstadt vernommen, der damals in Vertretung des beurlaubten Kreismedizinalrats Dr. Dörrenberg aus Soest den Befund der Leiche vornahm. Kreismedizinalrat Dr. Hagemeier äußert sich, der Erschossene sei durch Kopfschuß getötet worden. Doch lasse sich dadurch das Geschoßkaliber nicht einwandfrei festellen, da die Haut elastisch sei und sich wieder zusammenziehe. Daß es sich um eine Revolverkugel handelte ist jedoch nicht anzunehmen, da die Geschoßwirkung eine außerordentlich große war.
Dr. Voß – Werl war bereits 7 ¼ Uhr vor dem Eintreffen des Gerichts hergerufen worden, hat aber nur den Einschuß gesehen, da die Leiche bis zum Eintreffen des Gerichts nicht bewegt werden durfte. Eine Blutlache war noch nicht zu sehen; aber die Leiche war von der Brust bis zu den Oberschenkeln total durchnäßt, auch das Haar, die Schuhe voller Ackerkrume. „Mit dem Revolver aus dem Fenster kann jedenfalls diese Wunde nicht erzeugt sein.“ Dieser Sachverständige nimmt für sich besondere Sachkenntnis in Anspruch, weil er während des Krieges Leiter einer Kopfstation gewesen sei und in dieser Eigenschaft viele derartige Fälle zu Gesicht bekommen habe.
Der Schießsachverständige Teutenberg – Werl kommt zu dem Resultat: Die Wunde rührt nicht von einem Blei-, sondern von einem Mantelgeschoß her, der Gasdruck habe den Schädel gesprengt. Der Schuß sein demnach nicht mit dem Revolver, sondern mit dem Karabiner abgegeben und zwar mit Kaliber 8.
Nach Vernehmung der Sachverständigen wurde als erster Zeuge Amtsgerichtsrat Tholen – Werl gehört, der bereits gegen 8 Uhr morgens an Ort und Stelle war und den Toten von allen erreichbaren Seiten in seiner ursprünglichen Lage photographieren ließ. Ihm gegenüber hat der Angeklagte zunächst behauptet, daß von unten ein Schuß gefallen sei den er von oben erwidert habe. Bei dem ersten Verhör am Tage der Tat ist von einem Schuß mit dem Karabiner insbesondere von der Schießerei zum Uffeler Weg keine Rede gewesen. Erst als sich im Laufe der folgenden zwei Tage der Tatbestand mehr klärte und von anderer Seite bekundet wurde, daß zwei Schüsse nacheinander, ein dritter nach einer kurzen Spanne Zeit gefallen sei, hat sich der Angeklagte gegenüber dem vernehmenden Richter zu dem Geständnis bequemt, daß er auch zum Karabiner gegriffen habe, weil der Revolver versagte.
Aufgefallen ist dem Zeugen das eigenartige , fast zynische Benehmen des Fritze bei der Besichtigung der Leiche durch das Gericht. Irgendwelche Anzeichen von Reue oder Mitgefühl zeigte Fritze keineswegs; er ging vielmehr mit brennender Zigarette umher und tat so, als ob ihn die ganze Sache nichts anginge.
Aus der Fülle der übrigen Zeugenaussagen greifen wir das wichtigste heraus. Adam Müller ist gleich nach dem ersten Schuß angerufen worden. Er hält dafür, daß die Leiche nicht dorthin geschleppt sei, da der Hof eingefriedigt sein. Bis dahin war der Tote noch gar nicht erkannt worden. Erst der Zeuge Grote fand in der Tasche des Toten das gänzlich durchnäßte Portemonnaie mit der ebenfalls durchnäßten und schriftverwaschenen Monatskarte aus der man den Namen des Toten ersah. Große Bestürzung bemächtigte sich aller, auch des Schützen, der das furchtbare Geschick der armen hinterbliebenen Frau und Kinder und sein eigenes bejammerte.
Auf weitere Beweisaufnahme verzichteten Staatsanwaltschaft und Verteidigung.
Staatsanwaltschaftsrat Dr. Hoberg kam in seinem Plädoyer zu dem Schluß, daß Stewen vorher erschossen und dann auf den Hof geschleppt sei. Von Notwehr könne keine Rede sein. F. hätte nicht gleich zum letzten Mittel greifen dürfen, ein Schreckschuß hätte genügt. Es liege Fahrlässigkeit vor. Eine Ruchlosigkeit bedeutete es, mit brennender Zigarre umherzugehen, während das Gericht die Ermittlung führe. Der Staatsanwalt beantragte eine Gefängnisstrafe von 6 Monaten, für das unbefugte Zurückbehalten eines Karabiners, 6 Wochen Gefängnis und bat, diese Strafen in eine Gefängnisstrafe von 7 Monaten zusammenzuziehen.
Der Verteidiger Rechtsanwalt Gierlich hält es für ausgeschlossen. Das der Angeklagte tatsächlich den Tod des Asheuer verschuldet habe und glaubt, daß dieser auf eine andere Weise zu Tode gekommen sei, hält aber zum mindesten Putativnotwehr für vorliegend, die nicht strafbar sei, und bittet wegen der Übertretung der Waffenablieferungsverordnung um eine milde Bestrafung.
Die Urteilsverkündigung findet am Donnerstag den 22. November, mittags 12 Uhr von der Strafkammer 1 des Landgerichts Münster statt. Um 4,30 Uhr war die um 9,30 Uhr früh begonnen Verhandlung zu Ende…..
Hier endet der Bericht des Soester Anzeigers zur Verhandlung in der Gaststätte Schulte. Uns liegt auch der Bericht des Soester Kreisblatt vom selben Tag vor. Ursprünglich wollten wir diesen ohne „Übersetzung“ anhängen. Da er aber schon ein anderes Licht auf den Fall wirft wird er im nächsten Teil unserer Serie gesondert behandelt.
Autor: Manfred Zeppenfeld / Alfred Risse