Das Neujahrssingen war auch in Westönnen eine alte Tradition. Man ging von Haus zu Haus und für das gesungene Lied gab es kleine Geschenke, meistens Essbares oder Getränke. Was jedoch passieren konnte, wenn man den eigenen Bezirk erweiterte, erlebten einige Westönner am 1. Januar 1927, als sie zum Singen nach Gerlingen gezogen waren. Ein Zeitungsbericht des Soester Anzeigers vom 28.06.1927 berichtet über eine Gerichtsverhandlung beim großen Schöffengericht in Hamm, bei der die Geschehnisse von jenem Tag verhandelt wurden. Für jene Westönner war es kein guter Anfang im Jahre 1927.
Aus dem Gerichtssaal – Großes Schöffengericht Hamm
Ein verhängnisvoller Sylvester-„Scherz“
Das Ende des „Neujahrssingen“ der Westönner in Gerlingen
Vor dem erweiterten Schöffengericht in Hamm hatten sich der Schlosser Alfred Becker aus Sieveringen und der Landwirtschaftsgehilfe Josef Düllberg aus Gerlingen wegen gefährlicher Erpressung zu verantworten. – Es war in der Sylvesternacht des vergangenen Jahres. B hatte dem Alkohol schon reichlich zugesprochen, als er gegen 11 Uhr in der Flaschenbierhandlung Düllberg in Gerlingen einkehrte. Um 12 Uhr sang man das neue Jahr an. Man erhielt hierbei Geld und Würste. Bei D. wurden die Würste gebraten und das Geld vertrunken.
6 Leute aus Westönnen waren auch nach Gerlingen zum Neujahrssingen gekommen. Als sie sangen, hörten sie die bei D. noch versammelten Gerlinger. Sie eilten hinaus, weil es ihnen wohl nicht recht war, daß Leute aus der Nachbargemeinde Neujahrsgeschenke sammelten. Die Westönner sahen plötzlich 10 bis 15 Leute auf sich zueilen, voran der Angeklagte B. mit einem Stßeisen in der Hand. Die Gerlinger riefen: „Westönnen raus“. Die Westönnener sollen nun in der Flaschenbierhandlung D. Bier traktieren und wollten dieser Aufforderung nachkommen. Auf dem Wege zu D. wurden sie bereits geschlagen, und zwar schlug J. D. den Zeugen Voigt mit dem Stock über Kopf und Arm, B. schlug den Zeugen Franz Greune mit dem Stocheisen. Als man sich dem Hause D. näherte, wurde hier das Licht ausgemacht und die Tür geschlossen.
Da kam B. angeblich mit einem großen Messer in der Hand auf den Zeugen Heinrich Greune, einem alten Mann, zu, faßte ihn beim Bart und rief: „Geld heraus oder das Leben!“ Der Zeuge Voigt rief: „Gib ihnen das Geld, damit wir Ruhe haben und heile Knochen behalten.“ B. erhielt etwa 3 Mark. Dann hieß es zu den Westönnern: „Jetzt geht ihr voraus“ und so wurden sie zum Dorfausgang gedrängt. Hier rief B.: „Jetzt bleibt ihr stehen!“ Er wollte noch mehr Geld haben und drohte wieder mit einem blanken Gegenstand in der einen und einer Flasche in der anderen Hand. Jetzt legte sich aber der Zeuge Metten aus Gerlingen ins Mittel und forderte B. auf, heimzugehen, was dieser auch tat. M. begleitete die Westönnener noch ein Stückweg.
Der Angeklagte B. will sich nicht mehr erinnern, daß er geschlagen und eine räuberische Erpressung gemacht hat, weil er total betrunken gewesen sei. Der Angeklagte D. gibt zu, geschlagen zu haben. Die Verhandlung ergab, daß D. sich an der Erpressung nicht beteiligt hat.
Der Staatsanwalt beantragt gegen D. wegen gefährlicher Körperverletzung 50 Mark Geldstrafe, gegen B. wegen räuberischer Erpressung und gefährlicher Körperverletzung 8 Monate Gefängnis, wobei er mildernd berücksichtigte, daß B. stark angetrunken war. – Das Gericht erkennt gegen D. auf die beantragte Strafe, gegen B. auf die Mindeststrafe von 6 Monaten „wegen räuberischer Erpressung“ und auf 2 Wochen Gefängnis wegen gefährlicher Körperverletzung, welche Strafen zu einer Gesamtstrafe von 6 Monaten und 1 Woche Gefängnis zusammengezogen wurden. Dabei ist mildernd berücksichtigt, daß B angetrunken war und nur 3 Mark erhalten hat, ferner, daß er ärgerlich darüber war, daß die Westönner nach Gerlingen kamen und sich Geld ersangen weshalb er das Geld heraus verlangte. Weiter wurde mit Rücksicht auf das bisherige straflose Vorleben des B. beschlossen, nach Verbüßung von 2 Monaten bei guter Führung während der Haft die Reststrafe gegen Bewilligung einer Bewährungsfrist von 3 Jahren auszusetzen.
Autor: Manfred Zeppenfeld / Alfred Risse